Sarrazin: Das fehlende Kapitel
- Andrea Kamphuis
- 08.03.2011
Fast alles, was man über „Deutschland schafft sich ab“ sagen kann, ist bereits gesagt worden. Auf den folgenden Seiten soll es weder um Thilo Sarrazins große Wissenslücken auf dem Gebiet der Genetik noch um die Erblichkeit der Varianz menschlicher Intelligenz gehen, auch nicht um die beträchtlichen inneren Widersprüche im Buch oder um Sarrazins Ausflüge in eine unzeitgemäße Herrenreiterdiktion.
Aufhänger für diesen Artikel ist vielmehr eine Passage auf S. 352f. der mir vorliegenden 6. Auflage: „Die Frage, ob demografische Effekte zu dysgenischen Wirkungen führen können, wurde im letzte Drittel des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensiv erforscht und diskutiert. (…) In der zweiten Hälfte des 20. Jahrunderts gab es immer mehr Angriffe auf die Fragestellung. Diese Attacken waren letztlich Ausdruck von Wertungen, die gewisse Fragen als unzulässig verwarfen. Aber sie waren nicht empirisch begründet.“ Mit keinem Wort geht Sarrazin auf die Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, darunter zwei Weltkriege und ein Regime, das es schaffte, das Leid von eintausend Jahren in zwölf zu packen. Einen erheblichen Anteil an diesem Leid hatte eine klassische Pseudowissenschaft, die Eugenik. Was zu der von Sarrazin monierten Umwertung führte, war also durchaus Empirie, nämlich aus Erfahrung gewonnene Erkenntnis. Das Kapitel, das Sarrazin an dieser Stelle in sein Buch hätte einschieben müssen und das er ostentativ – mit einer politisch verheerenden Lust an der Provokation um jeden Preis – ungeschrieben ließ, soll hier nachgereicht werden.
Dabei werde ich eugenische Äußerungen deutscher Sozialisten und Sozialdemokraten aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik in den Mittelpunkt stellen – nicht, um der damaligen politischen Linken eine besondere Affinität zur Eugenik oder gar der heutigen Sozialdemokratie einen eugenischen Traditionsstrang zu unterstellen. Die extreme Rechte stand und steht der Eugenik zweifellos näher. Aber erstens ist Sarrazin nun einmal Mitglied der SPD. Zweitens ist das eugenische Denken etlicher Weimarer Sozialisten immer noch weniger bekannt als das der Rechten jener Zeit. Drittens haben einige der im Folgenden vorgestellten Personen binnen weniger Jahre bestürzend geschmeidige Kurswechsel vom Sozialismus zum Nationalsozialismus vollzogen, die zu untersuchen lehrreich sein könnte.
Viertens neigten und neigen viele säkulare Demokraten meiner Beobachtung nach dazu, im Zuge ihrer Distanzierung von eugenischen Positionen das Kind mit dem Bade auszuschütten und sich unnötigerweise vom Naturalismus zu verabschieden. Politiker, die sich ausdrücklich auf das Christentum berufen, können aus ihrem Glauben unmittelbar Normen gegen sozialtechnologische Eingriffe in die menschliche Reproduktion ableiten. Entsprechende säkulare Normen zu entwickeln und dabei weder naturalistischen Fehlschlüssen aufzusitzen noch „antinaturalistischen Fehlschlüssen“, beispielsweise der Leugnung der erblichen Komponente geistiger Eigenschaften, ist offenbar eine größere Herausforderung, wie etliche verworrene Sarrazin-kritische Feuilletonbeiträge gezeigt haben. Diese Schwierigkeiten könnten m. E. damit zusammenhängen, dass die Sozialdemokratie, die Anfang des 20. Jahrhunderts noch mitten in der Meinungsbildung zum Neodarwinismus Weismann’scher Prägung, zur Vererbung erworbener Eigenschaften und zu den Unterschieden zwischen biologischer und kultureller Evolution steckte, 1933 abrupt aus diesem Klärungsprozess herausgerissen wurde.
Bei der Beschäftigung mit Sarrazins Thesen stellt sich jedenfalls ein starkes Déjà-vu-Erlebnis ein.
Einige Kernthesen Sarrazins
1. Zugewanderte zählen nicht zur Bevölkerung
Den Begriff der Bevölkerung definiert Sarrazin leider ebenso wenig wie den der Unterschicht. So wird es möglich, dass die „Unterschicht“, der eben noch ganz pragmatisch das untere Drittel eines nach Bildung und Erwerbsbeteiligung gerankten Personenkreises zugeordnet wurde, wenige Sätze später wundersamerweise dennoch „kontinuierlich wächst“ (S. 90f.). Was die Bevölkerung angeht, so scheint Sarrazin Zugewanderte nicht dazuzuzählen. Sonst müsste er nicht betonen, dass sich die Qualität der Erwerbstätigen eines Landes aus der Sozialisation und dem Bildungsgrad der Bevölkerung sowie der Sozialisation und dem Bildungsgrad der Zugewanderten ergebe (S. 35).
2. Der Sozialstaat hat die natürliche Auslese außer Kraft gesetzt
„Der moderne Sozialstaat hat“, so Sarrazin, „die seit Beginn der Menschheitsgeschichte geltenden Selektionsmechanismen außer Kraft gesetzt, indem er die Sterblichkeit vom materiellen Status weitgehend entkoppelt hat, und das ist gut so“ (S. 174). Dieser These, in ähnlicher Form bereits im 19. Jahrhundert vorgetragen, liegt m. E. ein verkürztes Verständnis der natürlichen Selektion zugrunde. Wir unterliegen nach wie vor einem Selektionsdruck, wie z. B. die große Zahl nicht eingenisteter befruchteter Eizellen oder kurz nach der Einnistung abgestoßener Embryonen zeigt. Der letzte Teil des Zitats zeigt übrigens, dass sich der Autor – bei aller ihm vom Feuilleton attestierten Kälte – durchaus nicht in vormoderne Zeiten zurücksehnt.
3. Differenzielle Reproduktion mindert die Intelligenz der Bevölkerung
Sarrazin zufolge „gefährdet vor allem die kontinuierliche Zunahme der weniger Stabilen, weniger Intelligenten und weniger Tüchtigen die Zukunft Deutschlands“ (S. 11). Dafür sorge die stärkere Fortpflanzung der Unterschicht gegenüber der geburtenschwachen Oberschicht. Da Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent erblich sei, werde „das vererbte intellektuelle Potential der Bevölkerung kontinuierlich verdünnt“ (S. 91f.). „Das Muster des generativen Verhaltens in Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre ist nicht nur keine Darwinsche natürliche Zuchtwahl im Sinne von ‚survival of the fittest’, sondern eine kulturell bedingte, vom Menschen selbst gesteuerte negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert“ (S. 353).
Als Gegenmaßnahme empfiehlt Sarrazin finanzielle Anreize für frühe Schwangerschaften von Akademikerinnen: „Es könnte beispielsweise bei abgeschlossenem Studium für jedes Kind, das vor Vollendung des 30. Lebensjahres der Mutter geboren wird, eine staatliche Prämie von 50.000 Euro ausgesetzt werden“ (S. 389).
4. Schichtabhängige Bildungserfolge sind eine Folge der Durchlässigkeit unserer Gesellschaft
„Je besser die Durchlässigkeit eines Bildungssystems ist, umso eher und umso nachhaltiger erschöpft sich das Potential an Höchst- und Hochbegabten aus den unteren Schichten“, meint Sarrazin. „Es ist also gar nicht gesagt, dass der geringe Anteil von Arbeiter- und Unterschichtkindern in den deutschen Gymnasien und Hochschulen Ausdruck einer im Vergleich mit anderen Staaten überdurchschnittlichen sozialen Benachteiligung ist. Ebenso gut kann er auch die Folge von bereits vollzogenen Aufstiegen sein“ (S. 82f.). Da die Entwicklung zur Meritokratie in Deutschland schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts begonnen habe, sei „die Entleerung der unteren Schichten von intellektuellem Potential bei uns weiter fortgeschritten“ als in Gesellschaften, die erst später durchlässig wurden (S. 227f.).
5. Die unterschiedliche Bildungsfähigkeit von Einheimischen und Zuwanderern ist zum Teil erblich bedingt
Sarrazin zitiert das Hauptergebnis aus dem Buch „The Bell Curve“ von R. J. Herrnsein und C. Murray, dem zufolge der IQ schwarzer Amerikaner im Durchschnitt um 16 Punkte (gut eine Standardabweichung) unter dem weißer Amerikaner liegt. Zwar heißt es in einer Fußnote auf S. 419, die Kontroverse um dieses Ergebnis sei „angesichts der großen Varianz von Intelligenz in jeder Gruppe völlig überflüssig, denn entscheidend sind allein die Eigenschaften des Individuums“. Andererseits schlägt Sarrazin diese Einsicht im Haupttext völlig in den Wind, sodass man sich fragen muss, ob die Fußnote tatsächlich vom selben Autor verfasst wurde.
So behauptet er auf S. 100: „Ein ähnlicher Zusammenhang gilt weltweit, wenn man den gemessenen Durchschnitts-IQ von Nationen und deren wirtschaftlichen Erfolg untersucht.“ Dabei beruft er sich auf eine höchst umstrittene Arbeit von Richard Lynn und Tatu Vanhanen, die das Konzept des IQ, der eigentlich nur innerhalb einer Population erfasst und auf den Mittelwert 100 normiert wird, massiv ausweiten und feststellen, dass der mittlere IQ insbesondere in den subsaharischen Ländern Afrikas weit unter 100 liege. So soll der mittlere IQ der Ghanaer 62 betragen. Weit mehr als die 50 Prozent aller Ghanaer müssten demnach eine geistige Behinderung aufweisen, also als Erwachsene nicht einmal das Intelligenzalter eines 12-jährigen Kindes erreichen. (Zur Erinnerung: Ghana ist das Land des ehemaligen Ashanti-Königreichs, das von 1680 bis 1896 bestand und sich durch regen Handel und eine komplexe Organisation auszeichnete.) Sarrazin, der sich selbst gute Statistikkenntnisse zuspricht, scheint sich über das immense Ausmaß der postulierten Intelligenzunterschiede zwischen den Ethnien überhaupt nicht zu wundern.
Zwei Textstellen sind in neueren Auflagen seines Buches modifiziert worden. Im Vorabexemplar für die Presse schrieb Sarrazin noch, die im Nahen Osten und in der Türkei häufigen Verwandtenehen hätten viele Behinderungen wie „angeborenen Schwachsinn“ (S. 370) zur Folge, und berief sich dabei auf einen Artikel von Peter Wensierski, der 2009 im Spiegel erschien. „Aber das Thema wird gern totgeschwiegen“, heißt es noch in der mir vorliegenden 6. Auflage. „Man könnte ja auf die Idee kommen, dass auch Erbfaktoren für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsystem verantwortlich sind“ (S. 316; Hervorhebung: AK). Einmal abgesehen von der Frage, wie sich eine Veröffentlichung im auflagenstärksten Wochenmagazin Deutschlands mit der These vom Totschweigen verträgt: Wensierski hat kein Wort über inzestbedingte Intelligenzminderungen geschrieben, sondern befasste sich mit erblichen Defekten wie Schwerhörigkeit, Epilepsie, Muskelschwund, schweren Extremitätenanomalien und Herzfehlern.
Sarrazin vermutet, dass „möglicherweise die international beobachteten Pisa-Unterschiede zumindest teilweise auch auf eine unterschiedliche Bildungsfähigkeit der jeweiligen Population zurückzuführen sind (…) Das würde erklären, warum die drei deutschen Stadtstaaten mit ihrem hohen Anteil an Migranten und transferabhängiger Bevölkerung trotz höherer Bildungsausgaben pro Kopf so viel schlechter abschneiden als der Durchschnitt der Bundesländer“ (S. 347f.; Hervorh.: AK).
Auf S. 353 fasst der Autor seine These zusammen: „Die qualitativen Verschiebungen in der Geburtenentwicklung Deutschlands und deren langfristige Folgen, nämlich (…) Zunahme des Anteils bildungsferner Migranten, starke Abnahme der Nachfahren bildungsnaher Schichten, homogame Partnerwahl der bildungsnahen Schichten bewirken, dass (…) der Anteil der nach heutigen Maßstäben unterdurchschnittlich Intelligenten wächst.“ Unter der Hand verwandelt sich hier Bildungsferne in Bildungsunfähigkeit, also geringere Intelligenz.
Die Vorläufer
Schon bald nach dem Erscheinen von Darwins „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ (1871) versuchten sich Sozialdemokraten an Verknüpfungen der Darwin’schen mit der Marx’schen Lehre. So schrieb August Bebel (1840-1913) in „Die Frau und der Sozialismus“ (1879): „Da bei der künstlichen Züchtung die bewußte Anwendung der Naturgesetze in der Pflanzen- und Tierwelt ganz Überraschendes leistet, so unterliegt es gar keinem Zweifel, daß die Anwendung dieser Gesetze auf das physische und geistige Leben der Menschen noch zu ganz anderen Resultaten führte, sobald der Mensch zweck- und zielbewußt und selbständig eingreifen würde.“ Bebel ging offenbar von einer Vererbung erworbener Eigenschaften aus; nur dann könnte der Mensch seine Natur binnen weniger Generationen so radikal veredeln, wie er es für möglich hielt.
Der Arzt und Monist Wilhelm Schallmayer (1857-1919), einer der Gründer der Rassenhygiene in Deutschland, war kein Sozialdemokrat und lehnte wie sein Kollege Alfred Ploetz das Gleichheitsideal der Sozialisten ab. Doch er verstand sich als Linker, antimonarchistischer Demokrat, Pazifist und Internationalist und setzte sich für eine europäische Staatenvereinigung ein. Kapitalismus und Krieg lehnte er wegen ihrer katastrophalen „kontraselektorischen“ Auswirkungen auf die Erbqualitäten kommender Generationen ab, und er befürwortete die „kühne sozialistische Idee“ einer Verstaatlichung des Kapitals. Die Sozialisten hätten sich „durch ihre Kritik der bisherigen Wirtschaftsordnung unbestreitbare Verdienste erworben“.
Schallmayer war kein Rassist; Ploetz’ Idee einer Überlegenheit der „arischen Rasse“ und der Rassenmischung als Ursache der „Entartung“ lehnte er ab. Die „Entartung der Kulturmenschheit“ komme vielmehr durch den medizinischen Fortschritt und die arbeitsteilige Wirtschaftsordnung zustande. Um ihr entgegenzuwirken, müsse der Staat als Sachwalter des öffentlichen Wohls eine Bevölkerungspolitik betreiben, die sich nicht an einer überlebten christlichen Ethik, sondern an der wissenschaftlichen Vererbungslehre zu orientieren habe. Nötig sei eine „völlige Unterordnung des individuellen Interesses unter das der Gattung“: Der Staat müsse dafür sorgen, dass Menschen mit unerwünschten Eigenschaften oder unterdurchschnittlicher körperlicher und geistiger Tüchtigkeit sich weniger, die „tüchtigeren, wertvolleren Elemente“ sich aber stärker fortpflanzten. Leistungsfähigkeit, Intelligenz und Moral hielt er für wissenschaftliche beweisbare Züchtungsziele.
Angeregt durch Bebel und Schallmayer versuchte auch der Sozialist und Kommunalarzt Karl Kautsky (1854-1938) in der von ihm mitgegründeten Zeitschrift Neue Zeit, den Marxismus mit dem Darwinismus zu verbinden. Wie Bebel verstand er die Evolutionstheorie lamarckistisch: Noch 1921 – 36 Jahre nach August Weismanns Keimplasmatheorie, 21 Jahre nach der Wiederentdeckung der Mendel’schen Regeln – sah er keinen Grund, „der uns zwänge, anzunehmen, daß erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden“. 1892 lobte er Schallmayer, diesen „Mann der Wissenschaft“, für dessen Kritik an den gesundheitsschädlichen Lebensbedingungen des großstädtischen Industrieproletariats.
Schallmayers Forderung, Untaugliche von der Fortpflanzung auszuschließen, lehnte er jedoch ab: „Der Plan sieht sehr rationell aus, wenn man die einzelnen Fälle in Betracht zieht; aber wohin gelangen wir, wenn wir die Entartung als Massenerscheinung betrachten? Dann heißt der Vorschlag nichts anderes, als die Bevölkerung ganzer Stadtviertel, ganzer Fabrikdistrikte, ja unter Umständen ganzer Provinzen, mit wenigen Ausnahmen zum Zölibat verurtheilen“, und solche staatlichen Zwangsmaßnahmen missbilligte Kautsky. Erst im Sozialismus würden „alle kränklichen Individuen, die kranke Kinder zeugen können“, aus freien Stücken „auf die Fortpflanzung verzichten“.
Noch 1910 meinte er zu bemerken, dass die körperliche Entartung der Menschheit „rasche und beängstigende Fortschritte“ mache, und schwärmte von der sozialistischen Zukunft: „Ein neues Geschlecht wird entstehen, stark und schön und lebensfreudig, wie die Helden der griechischen Heroenzeit, wie die germanischen Recken der Völkerwanderung (…)“
Der Berliner Arzt Ignaz Zadek (1858-1931), der eine Praxis im armen Neukölln führte, war Begründer und Vorsitzender des Sozialistischen Ärztevereins Berlin und 1892 bis 1911 Stadtverordneter der SPD. Seine Schwester war mit Eduard Bernstein verheiratet. Im Zentralorgan der USPD schrieb er: „Die Ausmerzung der Ungeeigneten, die Aufzucht hochwertiger, körperlich und geistig gesunder Individuen wird die sozialistische Gemeinde zu Maßnahmen veranlassen, welche die Höherentwicklung ihrer Mitglieder planmäßig vorbereitet.“
Der Sozialdemokrat Eduard David (1863-1930) kritisierte vor allem die ungerechte Vermögensverteilung als „Durchkreuzung der natürlichen Auslese in der heutigen Gesellschaft“: Die „antisozialen Begabungen im wirtschaftlichen Kampf ums Dasein, der auf das Prinzip der kapitalistischen Konkurrenz gestellt ist“, würden „sich als nützliche Eigenschaften bewähren und darum immer mehr gezüchtet werden“. Es sei Schallmayers Verdienst, auf diese „Verkümmerung des organischen Bestands des Volkskörpers“ hingewiesen zu haben.
Einen anderen Schwerpunkt, nämlich die Überzahl der Ausländer und des Lumpenproletariats, setzte der prominente SPD-Abgeordnete, frühere Volksbeauftragte und Reichsjustizminister Otto Landsberg (1869-1957). 1927 erklärte er in einem Reichstagsausschuss zum Thema der Reichsverweisung, aus Sicht der sozialdemokratischen Fraktion gebe es bereits „genug einheimisches Ungeziefer, das man sehr gut entbehren könnte, um so weniger bestehe Anlaß, den Zuzug und Aufenthalt ausländischer gemeingefährlicher Elemente zu unterstützen“.
Der Arzt Ludwig Woltmann (1871-1907) hatte bei Ernst Haeckel studiert, war Mitglied der SPD und versuchte die Vorstellungen von Haeckel und Marx miteinander verknüpfen. Darüber wurde er Sozialdarwinist, Rassist und ein einflussreicher Befürworter der Eugenik. Wo seine Genossen einen Klassenkampf sahen, nahm er – ausgehend von Arthur de Gobineaus Theorie der arischen Herrenrasse – einen Kampf zwischen den Rassen wahr, und die kapitalistische Akkumulation begrüßte er mit Anastasius Nordenholz als Vorteil im Daseinskampf der nordischen oder germanischen Rasse. In der Politisch-anthropologischen Revue, die er 1902 gründete, setzte er sich für deren Reinhaltung ein.
Abrupter verlief der politische Kurswechsel bei dem monistischen Philosophen Heinrich Schmidt (1874-1935), der sich unter anderem mit Darwin-Übersetzungen einen Namen machte, über viele Jahre Ernst Haeckels „rechte Hand“ war und nach dessen Tod im Jahr 1919 den Nachlass verwaltete. Anders als Haeckel stand Schmidt der Sozialdemokratie nahe und vertrat noch 1930 in seiner Schrift „Der Kampf ums Dasein“ einen dezidiert sozialistischen, pazifistischen und antisozialdarwinistischen Standpunkt. Doch danach schlug er radikal-nationalistische und rassistische Töne an. Als der Monistenbund im Zuge der Gleichschaltung 1933 aufgelöst wurde, gründete Schmidt als Ersatz für die verbotenen Monistischen Monatshefte die Zeitschrift Natur und Geist, die sich erheblich stärker auf den Nationalsozialismus und Hitler berief, als es zum Überleben notwendig gewesen wäre.
Die SPD-Reichstagsabgeordnete Oda Olberg (1872-1955) setzte sich intensiv mit der „Entartung in ihrer Kulturbedingtheit“ auseinander – so der Titel einer ihrer Schriften. Wie Cesare Lombroso wollte sie die Devianz des Lumpenproletariats unter anderem biologisch erklären: Bei Menschen, „die aus dem Produktionsmechanismus der Gesellschaft geschleudert sind, die dauernd der Armenpflege zur Last liegen“, sei der „soziale Schiffbruch“ offenbar „eine Folgeerscheinung und ein Ausdruck biologischer Unzulänglichkeit“. In ihren „Bemerkungen über Rassenhygiene und Sozialismus“ betonte sie 1906 aber auch, und zwar unter Berufung auf Schallmayer, den kapitalistischen Hintergrund der Degeneration. Ein „Mangel an Zuchtwahl“ und das „Aufpäppeln der Minderwertigen“ führten zu einer rapiden Verschlechterung des Erbgutes. Dem müsse mit eugenischen Maßnahmen, allem voran mit einer rassenhygienischen Erziehung der Massen, Einhalt geboten werden. Weitergehende Schritte wie Euthanasie für unheilbar Kranke seien aber erst in einer gesitteten, nicht mehr kapitalistisch geprägten Gesellschaft zu erwägen. Den aufkommenden Nationalsozialismus bekämpfte sie vehement.
Die bekannte SPD-Reichstagsabgeordnete Toni Pfülf (1877-1933) setzte sich im Strafrechtsausschuß des Reichstages für eugenische Maßnahmen wie die Sterilisationsinitiativen ihrer Partei ein. Wie Olberg sah sie einen engen Zusammenhang zwischen Lumpenproletariat und Verbrechertum. Ihr Eintreten für eine freiwillige, eugenisch motivierte Geburtenbeschränkung war typisch für das Bestreben der sozialdemokratischen Frauenbewegung, die Lage der Mütter in der Arbeiterklasse zu verbessern und zugleich das Problem des jugendlichen Verbrechertums zu lösen, das man für erblich bedingt hielt. Auch der prominente Strafrechtler und frühere sozialdemokratische Reichsjustizminister Gustav Radbruch (1878-1949) äußerte 1926 wie Olberg und Pfülf die Überzeugung, „die Delinquenz des Lumpenproletariats und mit ihr die schwere Delinquenz Mord, Sittlichkeitsverbrechen, Gewerbsdiebstahl“ sei durch „biologische Entartung“ bedingt.
Der Soziologe Theodor Geiger (1891-1952) vertrat in den 1920er-Jahren den Standpunkt, Erbpflege bedeute, sich nicht mehr damit zu begnügen, „die Menschenmassen, die uns mit jedem neuen Zeitalter beschert werden, hinzunehmen, wie sie sind“. Er unterschied strikt zwischen dem eigentlichen Proletariat und „Gesindel“ oder „Auswurf“, den „Gestrandeten und Deklassierten aller sozialen Zonen – zumeist Untermenschen, die vom Mutterleib an geistig und moralisch, oft auch körperlich, minderwertig sind“. Noch 1933/1934, als er wegen seiner SPD-Mitgliedschaft und seiner frühen Nähe zum Marxismus bereits im dänischen Exil leben musste, erschien in den Kölner Vierteljahresheften für Soziologie ein Aufsatz, in dem er davor warnte, Wohlfahrtspolitik könne zur „Schaffung von Ausnahmemilieus für Mindertaugliche“ führen, mithin als „Gegenauslese“ wirken und den „Ruf nach rücksichtsloser Ausmerze“ berechtigt erscheinen lassen.
Der thüringische Gewerkschafter und Sozialdemokrat Karl Valentin Müller (1896-1963) forderte 1927 in seiner von den Gewerkschaften in Auftrag gegebenen Studie „Arbeiterbewegung und Bevölkerungsfrage“ eine „planvolle Züchtung der sozialbiologischen Anlagen“ und die „rücksichtslose, wenn möglich zwangsweise Unterbindung des Nachwuchses aus dem Bevölkerungsballast, den wir allzu lange schon mit uns schleppen und der ein schlimmerer Ausbeuter der produktiven Arbeit ist als alle Industriekönige zusammengenommen“. Mit diesem lumpenproletarischen Ballast war seines Erachtens kein sozialistischer Staat zu machen. Stattdessen müsse man erst „eine möglichst fähige sozialistische Unternehmerschicht und möglichst willige und kluge sozialistische Qualitätsarbeiterschichten züchten und erziehen, wenn der Sozialismus in absehbarer Zeit Wirklichkeit werden soll“.
Für Müller, der ab 1927 in verschiedenen Referaten im sozialdemokratisch geführten sächsischen Kultusministerium arbeitete, war Organisierbarkeit das wesentliche Kriterium für die Güte der Arbeiterschaft. Einer 1926 durchgeführten Gewerkschaftsumfrage zufolge rekrutiere sich die gewerkschaftlich und sozialdemokratisch organisierte, beruflich qualifizierte und „auch biologische Elite“ des Proletariats überwiegend aus ehemaligen Mittelstandsfamilien, während die Familien der meisten Ungelernten bereits seit Generationen aus Ungelernten bestünden. Die „wertvollsten und tüchtigsten, verantwortungsbereiten Elemente“ aus diesen Familien seien gesellschaftlich aufgestiegen.
Wegen seiner SPD-Mitgliedschaft 1933 zunächst entlassen, passte sich Müller den neuen Verhältnissen durch Schriften wie „Der Aufstieg des Arbeiters durch Rasse und Meisterschaft“ an. 1939 wurde er Soziologieprofessor, und mit Vorlesungen über „Rasse, Volk und Gesellschaft“ oder „Volk und Raum“ etablierte er sich als Fachmann für die Rassenlehre des Nationalsozialismus. Trotz rassistischer Schriften mit Titeln wie „Die Bedeutung des deutschen Blutes im Tschechentum“ (1939), in denen er beispielsweise forderte, das „deutsche Volkstum von (…) leistungsmäßig minderebenbürtigen Sippen zu entschlacken“, wies seine Karriere nach 1945 nicht den leisesten Knick auf.
Dem wohl wichtigsten sozialdemokratischen Eugenikbefürworter der Weimarer Republik, dem Arzt Alfred Grotjahn (1869-1931), war ein solches rassenanthropologisches Denken fremd, von Antisemitismus ganz zu schweigen. In aller Deutlichkeit distanzierte er sich von Vorschlägen zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ und von den „pseudowissenschaftlichen theoretischen Grundlagen des Antisemitismus und des Arierfimmels“, die der Kreis der Autoren des Münchener Verlagshauses Lehmann um Fritz Lenz verbreite. Unter anderem deshalb mied er den Ausdruck Rassenhygiene und sprach stattdessen von „sozialer Hygiene“. Dennoch lässt der Vergleich seiner frühen und späten bevölkerungspolitischen Schriften (um 1904 bzw. 1926) eine im Rückblick alarmierende Verschiebung in seinen Definitionen und Zielvorstellungen erkennen.
Vom Individuum zum Volk
Grotjahn lernte während seines Medizinstudiums Ludwig Woltmann kennen und gehörte der Sozialwissenschaftlichen Studentenvereinigung an, die mit der Sozialdemokratie sympathisierte. 1896 ließ er sich als praktischer Arzt in Berlin nieder. 1904 stellte er der Berliner Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege in einem programmatischen Vortrag sein Konzept einer „sozialen Hygiene“ vor. 1912 habilitierte er sich. Eine Zeitlang war er Dekan der Berliner Universität, und von 1915 bis 1920 war er in der Berliner Gesundheitsverwaltung tätig. Der gesundheitspolitische Teil des 1921 verabschiedeten Görlitzer Programms der SPD – darunter die wichtige Forderung, die gesamte Gesundheitsfürsorge unter Ausschaltung privatkapitalistischer Wirtschaftsformen zu organisieren – geht wesentlich auf Grotjahn zurück. 1921 zog er als Nachrücker in den Reichstag ein, dem er bis 1924 angehörte; er war gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und wurde zum rechten Rand der Sozialdemokratie gezählt. Innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene gehörte er hingegen dem moderaten bis progressiven „Berliner Flügel“ an, dem der rassistische Münchener Flügel um Fritz Lenz, Alfred Ploetz und Ernst Rüdin gegenüberstand.
Anfangs verstand Grotjahn unter Sozialhygiene die „Lehre von den Maßnahmen, die die Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von örtlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen und deren Nachkommen bezwecken“. Seiner Überzeugung nach musste „sich die Hygiene an den Ergebnissen der Demographie orientieren, wenn sie sich nicht in den Kleinigkeiten des rationellen Spucknapfes oder des geruchlosen Waterclosets verlieren soll“. Diese Definition des Forschungsgegenstands und der Zielgruppe der Maßnahmen – örtlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörige Individuen und deren Nachkommen – wäre in ihrer Nüchternheit und Neutralität auch heute nicht zu beanstanden.
In den folgenden Jahren meinte Grotjahn jedoch zu erkennen, dass der Geburtenrückgang „bei den germanischen Völkern“ die Gefahr einer Überflügelung und inneren Aushöhlung durch das „andringende, sich stark vermehrende Slaventum“ berge. Ebenso große Sorge bereitete ihm die „Unterfrüchtigkeit“ der Beamten und Intellektuellen, die spät heirateten oder gar ehelos blieben, während sich „minderwertige“ Bevölkerungsteile stark vermehrten. Auch innerhalb der Arbeiterklasse hätten inzwischen die „gehobenen Schichten weniger Kinder“, als zur Bestandserhaltung notwendig wäre, und gerade die aufgeklärte, bewusst klein gehaltene sozialistisch-proletarische Familie gerate gegenüber dem geburtenfreudigen religiösen, insbesondere katholischen Milieu ins Hintertreffen. „Man braucht sich ja nur in seinem Bekanntenkreis umzusehen, um feststellen zu können, daß die sich besonders auszeichnenden Parteigenossen, Sekretäre, Redakteure und Abgeordnete nur ausnahmsweise eine Kinderzahl von drei oder mehr erreichen“, schrieb er 1923. Wenn diese Entwicklung ungehemmt fortschreite, verspiele das deutsche Proletariat seine Rolle als der Hauptträger einer sozialistischen Zukunft.
Bereits Grotjahn meinte also, die Schichtung der Gesellschaft oder zumindest der Arbeiterklasse widerspiegele die erblichen Eigenschaften ihrer Mitglieder und die tüchtigeren, kulturtragenden Bevölkerungsteile gerieten gegenüber den minderwertigen demografisch ins Hintertreffen. Dabei übersah er, dass die Statistiker die differenzielle Geburtenrate bereits als Übergangsphänomen der Modernisierung und Urbanisierung erkannt hatten. 1926 schlug er in seinem Buch „Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung. Versuch einer praktischen Eugenik“ Maßnahmen vor, die „die kulturell führenden Völker vor einer allmählich fortschreitenden Entartung des physischen Substrats ihrer Kultur bewahren“ sollten. Um der Arbeiterbewegung die Eugenik schmackhaft zu machen, zitierte er das Bebel-Wort vom Sozialismus als angewandter Wissenschaft und schrieb: „Erleichtern dürfte dies die Erinnerung daran, daß die Bahnbrecher der Eugenik in Deutschland, W. Schallmayer und A. Ploetz, ihren Ausgangspunkt von der sozialistischen Gedankenwelt genommen haben, zu der sich auch der Verfasser dieses Buches bekennt.“
Unter Bevölkerung verstand Grotjahn nun, 1926, den „Inbegriff aller eines Volkes Land bewohnender nach Abstammung, Geschlecht, Alter, leiblicher und geistiger Bildung generativ miteinander verbundenen Individuen“. Neben die örtliche, zeitliche und gesellschaftliche Zusammengehörigkeit trat die gemeinsame Abstammung; kurz: aus Bevölkerung wurde Volk. Inzwischen lehnte er auch liberale juristische Bedenken gegen eine Unterwerfung der Individualrechte unter gesellschaftliche Zwecke als irrelevant ab: Zwar sollten vor allem Aufklärung, Einsicht und finanzielle Anreize dazu führen, „daß die Erzeugung und Fortpflanzung von körperlich oder geistig Minderwertigen verhindert und eine solche der Rüstigen und Höherwertigen gefördert“ werde, aber zur äußersten Not müsse der Staat auch Zwangssterilisationen durchführen dürfen.
Im Rahmen der von ihm betriebenen Verwissenschaftlichung oder Medikalisierung des bisher diffusen Entartungsbegriffs traten soziale und ökonomische Aspekte allmählich hinter erblichen Faktoren zurück. Unter diesen widmete er sich vor allem den Erbkrankheiten, da die Vererbungswissenschaft noch nicht so weit sei, „Licht in das dunkle Gebiet der Entstehung der Talente und Genies“ zu bringen und diese gezielt zu fördern. „Es geht auf Dauer nicht an, durch umfassende sozialhygienische Maßnahmen (…) zahlreiche Kranke, Minderwertige und Schwache zu Heirat und Nachkommenschaft zu bringen, während sich gleichzeitig die Rüstigen und Begabten durch die Ungunst wirtschaftlicher Zustände und den Zwang sich im Kampf um den Arbeitsplatz zu behaupten, zur Verkleinerung der Kinderzahl oder gar Ehelosigkeit veranlaßt sehen.“ Im Rahmen einer „planvollen Eugenik für alle“ sah er in Ausnahmefällen Zwangssterilisationen, für „das Heer der Landstreicher, Alkoholiker, Verbrecher und Prostituierten“ die lebenslange Asylierung und für einsichtsfähige Minderwertige einen freiwillen Fortpflanzungsverzicht vor. Neben diese negative stellte er eine positive Eugenik: Jedes Paar von guter Konstitution habe „die Pflicht, die Mindestzahl von drei Kindern über das fünfte Lebensjahr hinaus hochzubringen“. Eine Elternschaftsversicherung sollte sie dabei finanziell unterstützen; hochwertige Kinderlose sollten eine zusätzliche Steuer entrichten.
Gesellschaftsbastler
Der historische Rückblick zeigt, dass Sarrazin wenig Neues geschrieben hat: Seine die Migranten ausschließende Definition der Bevölkerung weist Parallelen zu derjenigen Grotjahns auf. Die Behauptung, der Sozialstaat habe die natürliche Auslese außer Kraft gesetzt oder gar eine Gegenselektion etabliert, gehörte zum Standardrepertoire der Eugeniker des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Die differenzielle Reproduktion bereitete schon Grotjahn Sorgen, der – wie Sarrazin – ausbleibende Lern- und Berufserfolge der untersten Schichten auf den längst erfolgten sozialen Aufstieg der Bildungsfähigeren zurückführte. Und zumindest ein Teil der linken sowie die Mehrheit der rechten Eugeniker glaubte, es gebe erbliche Unterschiede in den Begabungen der Völker – so, wie Sarrazin es in Bezug auf die Bildungsfähigkeit der Türken und Araber andeutet. Deutschland schafft sich demnach schon ziemlich lange ab.
Bloße Parallelen sagen nichts über die Stichhaltigkeit von Thesen aus und diskreditieren Sarrazin insofern noch nicht. Erst recht soll mit dem Hinweis auf diese Parallelen nicht angedeutet werden, uns stünde eine Wiederholung der Schrecken des Nationalsozialismus ins Haus. Doch um den immensen Erfolg von Sarrazins Buch zu verstehen, hilft es, sich die sozialen Umwälzungen und Verunsicherungen zu vergegenwärtigen, auf die Historiker das Aufkommen eugenischer Konzepte vor 1933 zurückführen. Abgesehen von Sonderfaktoren wie dem Ersten Weltkrieg und der Wirtschaftskrise von 1929 war es vor allem die massive Industrialisierung und Urbanisierung Deutschlands, die die Geburtenrate senkte – und zwar in allen Gesellschaftsschichten und Regionen, allerdings zeitversetzt. Beispielsweise nahm die weibliche Erwerbstätigkeit zu, und gebildeten Frauen standen neue Berufe offen. Diese säkulare Wende, der Trend zur Kleinfamilie, setzte zuerst in den oberen Schichten und in den Städten ein, die zudem mehr Arbeitsplätze boten und deshalb eine massive Zuwanderung vom Lande erlebten.
Nicht nur das städtische Bürgertum sah sich durch die rasante Veränderung seines Lebensraums bedroht: Auch der organisierte, aufstiegswillige, teils auch von Abstiegsängsten geplagte Teil der Arbeiterklasse, die Klientel der Sozialdemokraten, fürchtete das Lumpenproletariat, da dieses als undiszipliniert und undisziplinierbar galt, keine Solidarität zu kennen schien und das Ansehen des Proletariats gefährdete. Schließlich hatten schon Marx und Engels im Kommunistischen Manifest prophezeit: „Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.“
Sowohl das bürgerliche Lager als auch die politische Linke meinten in ganz Europa eine gewaltige körperliche und geistige Degeneration der Bevölkerung zu erkennen, obwohl objektive Indikatoren wie die Lebenserwartung eher auf das Gegenteil hinwiesen. Die Verelendung in den Armenvierteln, die Entwurzelung, Entfremdung und Vereinzelung vom Lande kommender Menschen durch die Verstädterung, die Folgen erbärmlicher Wohn- und Arbeitsverhältnisse wurden nicht nur als sozialer Missstand, sondern im Gefolge der Verbreitung der Evolutionstheorie auch als Ausdruck biologischer Untüchtigkeit interpretiert. So erschienen Mediziner und Naturwissenschaftler als die geeigneten Experten, um der weiteren Degeneration der Gesellschaft durch Anwendung eugenischer Sozialtechnologien Einhalt zu gebieten.
Der immense Verkaufserfolg von Sarrazins Buch könnte vom einem ähnlichen Denken zeugen: Einer GfK-Käuferanalyse zufolge ist der Männeranteil unter den Lesern außerordentlich hoch, was Tobias Kniebe in der Süddeutschen zu der Mutmaßung veranlasste, „dass Sarrazins Selbstbeschreibung als ‚Sozialingenieur’ tatsächlich eher männlich-technische Impulse anspricht, sozusagen den Gesellschaftsbastler im Mann“. Auch die ausländerfeindlichen Ausschreitungen und Manifeste in den 1980er-Jahren, einer Zeit anschwellender Arbeitslosigkeit, zeigen: Ökonomische Verwerfungen und komplizierte gesellschaftliche Aushandlungsprozesse wecken in einem Teil der Bevölkerung den Wunsch nach einfachen Lösungen und machen ihn empfänglich für biologistische Parolen.
Zur Abwehr des Sozialdarwinismus
So, wie heute zahlreiche Politiker, Wissenschaftler und Intellektuelle Sarrazins Thesen kritisch gegenüberstehen, stießen auch die Eugeniker und Sozialdarwinisten in der Weimarer Republik auf starken Widerstand – sowohl im liberalen oder katholischen Bürgertum als auch innerhalb der Sozialdemokratie. Allerdings gingen viele der Kritiker noch fälschlich davon aus, dass es eine Vererbung erworbener Eigenschaften geben könne. Sie lehnten die Weismann’sche Keimplasmatheorie ab, der zufolge nur Mutationen in den Keimzellen erblich sind, und weigerten sich, den Schritt vom Darwinismus zum Neodarwinismus mitzumachen. Alle Argumente gegen den Sozialdarwinismus und die Eugenik, die sie aus dieser veralteten lamarckistischen Interpretation der Evolutionslehre ableiteten, sind hinfällig. Zum Glück sind sie auch überflüssig.
Sozialdarwinisten erliegen dem naturalistischen Fehlschluss: Sie missverstehen die natürlichen Verhältnisse als normativ. Die natürliche Selektion ist weder gut noch schlecht; sie ist. Umgekehrt neigen viele Kritiker des Sozialdarwinismus zu einer antinaturalistischen Ethik. Sarrazin weist ganz zu Recht darauf hin, dass die Normen, die wir uns geben, nicht funktionieren werden, wenn sie der menschlichen Natur zuwiderlaufen. Eine reine Milieutheorie, der zufolge insbesondere die geistigen Eigenschaften eines Menschen kein bisschen auf seine Gene zurückgehen, ist heute nicht mehr haltbar. Stattdessen sollten wir die immense Komplexität der biologischen Grundlagen unserer Eigenschaften, an denen offenbar Aberhunderte Gene auf überwiegend noch unbekannte Weise beteiligt sind, gelassen zur Kenntnis nehmen.
Um ein aktuelles Beispiel zu nennen, das unverfänglicher ist als die Frage der Intelligenz: Ein internationales Konsortium zur Erforschung körperlicher Merkmale, GIANT, hat kürzlich das Zwischenergebnis seiner mehrjährigen Bemühungen zur Aufklärung der genetischen Grundlage der menschlichen Körpergröße bekannt gegeben: In aufwändigen Metaanalysen zahlreicher sogenannter Genome-wide Association Studies spürten die Wissenschaftler mehrere hundert Genvarianten an 180 verschiedenen Stellen im Genom auf, die alle zusammen für gerade einmal 10 Prozent der Variation der Körpergröße verantwortlich zeichnen – und zwar nur des erblichen Anteils dieser Variabilität; Ernährungseffekte usw. waren ausgeschlossen.
Hat man diese Vielschichtigkeit – die bei schwer zu fassenden geistigen Eigenschaften sicher nicht geringer ausfällt als bei der einfach zu messenden Körpergröße – erst einmal verinnerlicht und sich vergegenwärtigt, dass unsere mannigfaltigen Wechselwirkungen mit der natürlichen Umwelt und mit anderen Menschen die Komplexität noch einmal um Größenordnungen steigern, so fällt es leicht, die Grundannahme aller Eugeniker zu hinterfragen, nämlich: Sie wüssten, welche Eigenschaften unseren Nachfahren zum Vorteil gereichen würden und wer unter uns sich daher bevorzugt fortpflanzen müsse. Ein naturalistisches Menschenbild, das den Menschen zugleich als soziales Geschöpf begreift, führt nicht zwangläufig zur Vermessenheit des Sozialingenieurs oder Gesellschaftsbastlers, der meint, die richtigen Stellschrauben zu kennen. Es gibt uns vielmehr die Demut einzugestehen, dass wir die Zukunft nicht kennen.
Einer der entschiedensten Gegner des Sozialdarwinismus war der Zoologe Oskar Hertwig (1849-1922). Seine 1918 veröffentlichte Kampfschrift „Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus“ war in vielem schon damals überholt, da auch Hertwig die Keimplasmatheorie ablehnte und seine Argumentation zum Teil auf dieser falschen Annahme aufbaute. Doch sein Urteil über die Menschenzuchtbehörde, von der die Eugeniker träumten, ist heute noch ebenso so richtig wie damals:
„Mit welcher übermenschlichen Weisheit und Voraussicht in die Zukunft, mit welcher Menschenkenntnis müsste sie ausgestattet sein, damit ihr die im Schoße der Zukunft ruhende Veredelung der Menschheit anvertraut werden könnte? Sie müßte wie ein Gott nicht nur die äußerlich erkennbaren Merkmale und Fähigkeiten eines Menschen richtig beurteilen, sondern sein inneres Wesen, auch seine nicht direkt wahrnehmbaren Anlagen durchschauen können (…)
Auch der in sittlicher und geistiger Beziehung vollkommenste Mensch würde diesen Anforderungen nicht entsprechen, und er am allerwenigsten würde sich bereit finden im Bewußtsein seiner menschlichen Schwäche einem solchen Tribunal als Mitglied anzugehören, wie auch früher sich gewiß nicht die Besten zum Amt eines Groß-Inquisitors und Ketzerrichters gedrängt haben. Wohl aber würden in politisch erregten Zeiten sich immer ein Robbespierre und ein Marat finden, welche die Ausjätemaschine der negativen Zuchtwahl bestens zu versorgen wüßten (…)
[S]o wird recht bald hervortreten, wie die Ansichten in der menschlichen Gesellschaft über die erstrebenswerten Ziele der natürlichen Auslese und über die zu ihnen führenden Wege weit auseinandergehen würden, noch weit mehr als in gewöhnlichen politischen Fragen (…) Wie könnte dies auch anders sein! Denn die menschliche Art ist trotz ihrer Gleichheit in vielen allgemeinen Zügen doch auch wieder in vielen Einzelheiten ihres Wesens unergründlich verschieden und läßt in der Fülle dieser Verschiedenheiten erst den vollen Reichtum des Lebens zutage treten.“
Literatur
Ferdinand, Ursula (2006): Der „faustische Schulterschluss“ in der Sozialhygiene Alfred Grotjahns (1869-1931): Soziale Hygiene und ihre Beziehungen zur Eugenik und Demographie. Beitrag zur Tagung „Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?“, Basel, 17./18.02.2006.
Gasman, Daniel (1971): The Scientific Origins of National Socialism. Macdonald, London, und American Elsevier, New York.
Hertwig, Oskar (1921): Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus. 2. Auflage. Gustav Fischer, Jena.
Kniebe, Tobias (2011): Wer hat Angst vorm fremden Mann? In: sueddeutsche.de, 08.01.2011.
Lynn, R., und T. Vanhanen: Intelligence and the Wealth and Poverty of Nations. Manuskript o. J., ca. 2002.
Mocek, Reinhard (1995): „Biologie der Befreiung“. Zur Geschichte der proletarischen Rassenhygiene. In: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie, 2/1995, 133-180.
Mosse, George L. (1990): Die Geschichte des Rassismus in Europa. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main.
Sarrazin, Thilo (2010): Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. 6. Auflage. DVA, München.
Schwartz, Michael (1994): Proletarier und Lumpen. Sozialistische Ursprünge eugenischen Denkens. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 42, 1994/4, 537-570.
Schwartz, Michael (1998): „Euthanasie“-Debatten in Deutschand (1895-1945). In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 46, 1998/4, 617-665.
Vasold, Manfred (1995): Sozialistische Ursprünge eugenischen Denkens. Die Quelle des Wahnsinns trockenlegen. In: FAZ, 07.06.1995.
Walter, Franz (2010): Sozialdemokratische Genetik. In: Zeit online, 31.08.2010.
Weingart, P., J. Kroll und K. Bayertz (1988): Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Wensierski, Peter (2009): Schlechtes Blut. In: Der Spiegel, 36/2009, S. 52ff.
Wikipedia-Einträge zu Alfred Grotjahn, Intelligenzminderung, Karl Valentin Müller, Oda Olberg, Wilhelm Schallmayer, Heinrich Schmidt (Philosoph), Sozialdarwinismus; Dezember 2010.
Eine kürzere Fassung dieses Essays ist im im Skeptiker - Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken (1/2011, S. 18-23) erschienen und steht hier als PDF (6 Seiten) zur Verfügung.
- Zuletzt aktualisiert: Sonntag, 02. August 2015