Eine kritische Beurteilung der Theorie und der Praxis des Therapeutic Touch
- Stephan Matthiesen
A critical evaluation of the theory and practice of therapeutic touch
Von: Dónal O'Mathúna, Steven Pryjmachuk, Wayne Spencer, Michael Stanwick and Stephan Matthiesen
In: Nursing Philosophy, 3(2), 2002, 163-176; doi: 10.1046/j.1466-769X.2002.00089.x
Kurzbeschreibung (Übersetzung des Abstracts)
In diesem Artikel untersuchen wir die Theorie und die Praxis des Therapeutic Touch (TT) aus verschiedenen Perspektiven. Zunächst wird die angebliche enge Beziehung zwischen TT und Martha Rogers „Science of Unitary Human Beings“ („Wissenschaft vom Menschen als einheitliches Ganzes“) beurteilt. Im zweiten Teil wird die Verwendung der Sprache der modernen Physik in Rogers Theorie und im TT kritisch beleuchtet. Die Autoren geben dann eine Übersicht über die Forschungsliteratur zur Wirksamkeit des TT und schließen mit einer Diskussion der ethischen Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung von TT. Da jeder der hier behandelten Aspekte Gründe zur Sorge aufweist, kommt der Artikel zu dem Schluss, dass TT eine fragwürdige Behandlung ist, die auf einer sehr schwachen theoretischen, klinischen und wissenschaftlichen Basis beruht.
Kommentar von Stephan Matthiesen
Therapeutic Touch (TT) ist eine von Dolores Krieger und Dora Kunz entwickelte Heilmethode, die sich bei vielen Krankenschwestern und -pflegern großer Beliebtheit erfreut, die eine rein naturwissenschaftliche Sicht von Krankheiten als ungenügend empfinden. Nun lässt der Name "Therapeutic Touch" zunächst vermuten, dass es darum geht, die alltäglichen, nötigen und wichtigen Berührungen zwischen Pfleger und Patient zu analysieren und Bewusstsein dafür zu schaffen, wie die Art des Umgangs den Heilprozess unterstützen (oder auch stören) kann. Hierum geht es jedoch beim TT keineswegs; vielmehr beruht das Verfahren auf der Annahme, dass Patient und Pfleger jeweils menschliche Energiefelder haben, die aufeinander einwirken können, sodass Pfleger durch spezielle Handbewegungen etwa einen halben Meter über dem Patienten berührungslos zur Heilung beitragen können.
In diesem Artikel haben wir versucht, Therapeutic Touch umfassend aus verschiedenen Perspektiven fundiert und kritisch zu beleuchten – die Mitautoren arbeiten in der medizinischen Krankenpflege-Forschung und -Ausbildung und in der Philosophie, während ich die physikalischen Aspekte beigetragen habe. "Unsere Hauptargumente gegen TT beziehen sich auf den physikalisch unplausiblen Wirkmechanismus, die zweifelhafte Wirksamkeit und die ethische Besorgnis, die letztlich von diesen Fragen aufgeworfen wird", so unsere Schlussfolgerung.
Trotz des am Ende negativen Urteils haben wir großen Wert darauf gelegt, nicht mit einfachen Strohmannargumenten zu operieren, wie man es in der Diskussion um komplementäre Heilmethoden leider allzu oft erlebt, sondern uns intensiv und fair mit der Theorie und Praxis, mit den Annahmen und den vorgebrachten Wirksamkeitsbelegen auch aus Sicht der Anwender auseinanderzusetzen. Zudem war es uns wichtig, nicht in den üblichen Organen der Skeptiker zu publizieren, wo man sicher sofort Beifall erhalten hätte, sondern in einer Zeitschrift, die gerade auch bei denjenigen anerkannt ist, die dem TT zugeneigt sind.
Da ich selbst im Rahmen des Zivildienstes und in Teilzeitarbeit während des Studiums jahrelang in der Altenpflege tätig war, war die Arbeit an dem Artikel für mich eine spannende und lehrreiche Angelegenheit. Die Frustration vieler Patienten und Pfleger mit der Art, wie im modernen Gesundheitssystem vor allem bei chronischen Erkrankungen und in der Langzeitpflege die Bedürfnisse der Menschen oft nicht an erster Stelle zu stehen scheinen, kann ich aus eigener langjähriger Anschauung sehr gut nachvollziehen. Diese Frustration scheint mir einer der Hauptgründe für die Beliebtheit alternativer Heilmethoden – und nicht etwa die Erfolge oder Vorteile dieser Verfahren, ebenso wenig wie eine diffuse Wissenschaftsfeindlichkeit. Es gelingt vielen komplementärmedizinischen Verfahren (selbst bei völlig ungenügenden Wirksamkeitsnachweisen) einfach wesentlich besser als den im Gesundheitssystem etablierten Methoden, auf die subjektiv empfundenen Bedürfnisse vieler Menschen einzugehen.
Nun kann die Lösung für die Probleme des modernen Medizinsystems nicht darin bestehen, Methoden und Verfahren zu fördern, deren Wirksamkeit unbelegt ist – das wäre ethisch unverantwortlich. Andererseits scheint es mir aber auch wichtig, alternative Verfahren nicht pauschal zu bekämpfen, sondern von ihren Erfolgen zu lernen und stets daran zu arbeiten, dass im realen Gesundheitssystem der Mensch im Mittelpunkt steht – eine Aufgabe, die nie zu Ende geht!
Dummerweise wurde in der veröffentlichten Fassung des Artikels mein Name falsch geschrieben. Na ja, kommt vor.