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Erfolgreicher Autismus-Themenabend mit Stephan Matthiesen im Filmhouse

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Die Abendveranstaltung am vergangenen Montag (20. 7.) zum Thema "Autismus" mit einem Vortrag von Stephan Matthiesen, gefolgt von dem Film "Snow Cake", war mit etwa 80 Besuchern ein voller Erfolg. Der Abend war Teil eines monatlichen Vortrags- und Filmprogramms im Filmhouse Edinburgh, das die Edinburgh and South East Scotland Branch der British Science Association veranstaltet. Matthiesen ist derzeit Vorsitzender dieser Regionalabteilung.

Das autistische Spektrum ist durch Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion, in der Entwicklung der Sprache sowie durch stereotypes, repetitives Verhalten charakterisiert. Es handelt sich dabei um ein Spektrum von Erscheinungen, die individuell unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Low-Functioning-Autisten zeigen so starke Entwicklungsstörungen, dass ein eigenständiges Leben gewöhnlich nicht möglich ist. Bei High-Functioning-Autisten hingegen liegen die allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten im normalen Bereich; sie erlernen die Sprache zwar verzögert, können als Erwachsene jedoch gut sprechen. Das Asperger-Syndrom ist eine Sonderform im autistischen Spektrum, bei der die Sprachentwicklung nicht verzögert ist – oft wird Asperger daher erst im Erwachsenenalter erkannt.

In seinem Vortrag ging es Stephan Matthiesen vor allem darum, die unterschiedliche Wahrnehmung verständlich zu machen, die Menschen mit High-Functioning-Autismus oder Asperger-Syndrom von ihrer sozialen Umwelt haben. Als wichtiges erklärendes Konzept gilt heute die "Theory of Mind" bzw. die "Mindblindness". Als Theory of Mind (ToM) bezeichnet man die menschliche Fähigkeit, andere Menschen als eigene Persönlichkeiten mit eigenen Intentionen, Wahrnehmungen und Gefühlen zu erkennen. Menschen haben sozusagen in ihrem Gehirn eine "Theorie von den geistigen Vorgängen anderer" – eben eine "Theory of Mind" (ein auch im Deutschen gängiger Begriff, da es für das englische mind = "Geist, Seele, Bewusstsein ..." in diesem Kontext kein gutes deutsches Äquivalent gibt). Naiv mag man davon ausgehen, dass es anders gar nicht sein kann. Doch tatsächlich pflegen viele Menschen heute mit Computern einen sehr komplexen Umgang – oft komplexer als mit Arbeitskollegen –, ohne ihnen ein Bewusstsein zuzuschreiben. Auch nichtmenschliche Primaten scheinen keine oder eine deutlich schwächere ToM zu haben, trotz ihrer sehr komplexen kognitiven und sozialen Fähigkeiten. Die Theory of Mind scheint neurobiologisch darauf zu beruhen, dass das Gehirn Handlungen anderer biologischer Individuen ständig spontan simuliert bzw. modelliert, wohl mit ähnlichen Schaltkreisen wie bei der Ausführung eigener Handlungen.

Viele der sozialen Eigentümlichkeiten von Autisten lassen sich nun verstehen, wenn man annimmt, dass diese Theory of Mind schwächer bzw. anders entwickelt ist als bei neurotypischen (d. h. nicht autistischen) Menschen. Autisten sind dadurch "mindblind", ihnen bleiben die mentalen Vorgänge in anderen Menschen intuitiv so fremd wie etwa die Vorgänge in einem Computer. High-Functioning-Autisten lernen zwar bewusst, andere Menschen zu interpretieren, etwa ähnlich wie man sich (durchaus sehr detaillierte) Computerkenntnisse aneignen kann, doch die Leichtigkeit intuitiver Fähigkeiten wird kaum erreicht.

Unterstützt wird diese Sicht zum einen von Experimenten wie etwa einer neuen Arbeit von Atsushi Senju und Kollegen, die wenige Tage vor dem Vortrag in der Zeitschrift Science veröffentlicht wurde. Die Autoren nutzten eine in der Erforschung der ToM übliche False-Belief-Aufgabe: Die Probanden sehen ein Video mit einer Person, die beobachtet, wie ein Objekt in eine von zwei Schachteln (z. B. die linke) gelegt wird. Dann blickt die Person (für die Probanden deutlich erkennbar) in eine andere Richtung, während das Objekt in die andere Schachtel (hier die rechte) bewegt wird. Die Probanden wissen also, dass das Objekt in der rechten Schachtel liegt, während die Person annehmen muss, dass es in der linken liegt, also einem Irrtum unterliegt – daher der Begriff "False-Belief-Aufgabe". Nun müssen die Probanden angeben, welche Schachtel die Person wohl öffnen wird. Neurotypische Erwachsene werden auf die linke tippen, da sie verstehen, dass die Person von falschen Voraussetzungen ausgeht. Autistische Kinder haben dagegen Schwierigkeiten und tippen auf die rechte Schachtel: ein Hinweis, dass sie nicht nachvollziehen, was in der anderen Person vorgeht. Das Interessante an der neuen Arbeit von Senju ist nun: Erwachsene Menschen mit Asperger-Syndrom tippen – wenn man sie fragt – auf die korrekte Schachtel, doch ihre unwillkürliche Augenbewegung zeigt zunächst keine Präferenz, während neurotypische Menschen überwiegend auf die korrekte Schachtel blicken. Die Autoren schließen daher auf eine "Mind-Blindness", ein Fehlen einer spontanen Theory of Mind beim Asperger-Syndrom, und stellen fest: "Daher schreiben diese Menschen mentale Zustände (anderen Personen) nicht spontan zu, können aber bei expliziten Aufgaben aufgrund von kompensatorischem Lernen dazu in der Lage sein."

Zum anderen wird die Rolle der ToM auch von Selbstbeschreibungen autistischer Autoren gestützt, die ihre Schwierigkeiten im Kontakt mit neurotypischen Menschen schildern – eine empfehlenswerte Sammlung dazu ist das von Dawn Prince-Hughes herausgegebene Bändchen "Aquamarine Blue 5: Personal Stories of College Students with Autism" (Swallow Press/Ohio University Press 2002). Bedenken muss man freilich stets den Hinweis von Francesca Happé, dass im Allgemeinen nur gesellschaftlich relativ erfolgreiche Autisten überhaupt die Gelegenheit zur Veröffentlichung haben, sodass Selbstberichte nur einen selektiven Teil des Erfahrungsspekrums wiedergeben dürften.

Das stets wiederkehrende Thema in Selbstberichten sind die Probleme, die mentalen Zustände anderer intuitiv richtig zu verstehen – ohne dass dies von den High-Functioning-Autisten selbst als Behinderung empfunden wird. Sie werten es eher als Bereicherung, da sie die Ambiguitäten sozialer Interaktionen bewusster wahrnehmen.

Dass Autisten bei geeigneter Arbeitsumgebung sehr leistungsfähige Mitarbeiter sein können, wird langsam entdeckt, wie ein aktueller Bericht der BBC zeigt. In seinem Vortrag nahm Stephan Matthiesen dies zum Anlass für einige kontroverse Denkanstöße. Im heutigen Berufsleben spielen die "soft skills" – das ständige Networken, das Managen komplexer sozialer Situationen usw. – eine zunehmend wichtige Rolle. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass soziale Fähigkeiten natürlich sind und jeder darin gut sein kann – doch was ist, wenn diese Annahme einfach nicht stimmt? Und: Autisten nehmen ihre Umgebung weniger im Hinblick auf soziale Signale und mehr im Hinblick auf physische Zusammenhänge wahr – ist dies nicht auch eine intrinsisch wertvolle Sicht, die neurotypischen Menschen helfen kann, ihre eigene Rationalität zu hinterfragen?

Gefolgt wurde der Vortrag von dem Film "Snow Cake": Der Brite Alex (Alan Rickmann) nimmt im verschneiten Kanada die Anhalterin Vivienne mit, doch bei einem Autounfall kommt sie ums Leben. Obwohl der Unfall nicht Alex' Schuld war, fühlt er sich schuldig und sucht ihre Mutter, die High-Functioning-Autistin Linda (Sigourney Weaver) auf. Er lässt sich breitschlagen, ein paar Tage zu bleiben, um ihr bei den Vorbereitungen für das Begräbnis zu helfen – eine Zeit, in der Alex und Linda lernen müssen, mit der unterschiedlichen Persönlichkeit des jeweils anderen umzugehen, während sie gleichzeitig beide auf ihre eigene Weise ihre Trauer bewältigen müssen.

Die Autistin Linda wird von Sigourney Weaver brilliant gespielt – mehrere an diesem Abend anwesende Personen mit autistischen Angehörigen bestätigten in der anschließenden informellen Diskussion, dass Weaver sich sehr genau mit Autisten auseinandergesetzt haben muss. Und schon während des Films war am Kichern und Seufzen im Publikum erkennbar, dass die Zuschauer manches aus ihrem eigenen Leben wiedererkannten. Angenehm sticht der Film auch dadurch heraus, dass Linda keine Savant-Fähigkeiten, also brilliante Sonderbegabungen, hat – ansonsten ein beliebtes Thema, wenn Autismus von der Kinowelt aufgegriffen wird, obwohl in der Realität nur ein kleiner Teil der Autisten Savants sind.

Seinen besonderen Reiz erhält der Film durch die genaue Beobachtung der typischen Schwierigkeiten und Missverständnisse, die beim Kontakt von High-Functioning-Autisten mit Neurotypischen auftreten und die im Film oft zu einer natürlichen Situationskomik führen, trotz der Trauer über den Verlust Viviennes. Oder, wie Linda es ausdrückt: "Nein, ich habe Vivienne nicht verloren; sie ist tot" – um nur eines der Beispiele für die Schwierigkeit zu zitieren, metaphorische Ausdrücke zu verstehen.

Mit der Vortrags- und Filmreihe möchte die Edinburgh and SE Scotland Branch der British Science Association der Öffentlichkeit aktuelle wissenschaftliche Themen nahebringen. Fortgesetzt wird die Reihe am 24. August 2009. Victoria Robertson wird zum Thema "Medikamentenversuche" sprechen, gefolgt vom Film "Der ewige Gärtner".