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Zur Entwicklung der Theoretischen Biologie

Aspekte der Modellbildung und Mathematisierung

Von: Wolfgang Alt, Andreas Deutsch, Andrea Kamphuis, Jürgen Lenz & Beate Pfistner

In: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 3/1996, S. 7–59

Kurzbeschreibung (Abstract)

Theoretische Biologie ist facettenreich und erscheint nur auf den allerersten Blick als Quadratur des Kreises, denn die Berücksichtigung theoretischer, formaler Aspekte, Prinzipien und Modelle hat den Lebenswissenschaften seit Anbeginn nicht nur fruchtbare Impulse verliehen, sondern ist sogar wesentliches Fundament der Biologie. Betrachten wir zum Beispiel Fische, die in einem Schwarm Schutz suchen, so können wir zum einen nach den biologischen Wechselwirkungen fragen, die zur Schwarmform führen, und diese mit Hilfe biophysikalischer Methoden analysieren. Wir können aber auch fragen, welcher Art die Einheiten, d. h. Organismen, sein müssen, um Interaktionen eingehen zu können, oder welche Schwarmmuster überhaupt denkbar sind. Die Entwicklung von Konzepten und das Schärfen der Begriffe, z. B. Schwarm oder Organismus, bleiben für die Biologie enorm wichtig und werden zu Recht ebenfalls als Theoretische Biologie bezeichnet. Die beiden Enden des Spektrums – nennen wir sie Biophysik und Biophilosophie – sind durch ein Kontinuum aus logischen, phänomenologischen, qualitativen oder quantitativen, systemtheoretischen, stochastischen oder deterministischen Modellen verknüpft, die teils in der uns allen vertrauten natürlichen Sprache, teils in der abstrakten Sprache der Mathematik formuliert werden können.

Gliederung

  • Theoretische Biologie: Versuch einer Begriffsbestimmung
    • Modellorientiertes Arbeiten
    • Von einer Theorie der Biologie zur Theoretischen Biologie
  • Ursprünge des Begriffs "Theoretische Biologie" – Johannes Reinke, Julius Schaxel und Jakob von Uexküll
    • Der Pflanzenphysiologe Johannes Reinke und seine "Biodynamik"
    • Julius Schaxels Buchreihe "Theoretische Biologie"
    • Hans Driesch und Jakob von Uexküll – "Pioniere der theoretischen Biologie"?
  • Erste systematische Ausgestaltung der Theoretischen Biologie – Ludwig von Bertalanffy
  • Alfred J. Lotkas "Physikalische Biologie" – Ein frühes Meisterwerk der Formalisierung
  • Taxis und Tropismus – Begriffe und Modelle im historischen Wandel
    • Wurzeln – Die Frage der Orientierung von den Anfängen bis zu Sachs
    • Natur nachbauen – Der Einsatz von Analogmodellen
    • Scheu und Liebe – Die Erforschung der Zellseele
    • Biotonus-Maschinen – Loebs Tropismustheorie und ihre Kritiker
    • Streit um Worte – Klassifikation der Orientierungsmechanismen
    • Formeln und Gesetze – Anfänge der mathematischen Modellierung
    • Empfänger und Sender – Moderne Chemotaxis-Modelle
  • Ausblick
  • Literatur
  • Anhang
    • Eine Auswahl von Zeitschriften der Theoretischen Biologie
    • Wissenschaftliche Einrichtungen im deutschsprachigen Raum mit Forschungsarbeiten in Theoretischer/Mathematischer Biologie

Kommentar von Andrea Kamphuis

Von 1993 bis 1999 gab es in der Abteilung für Theoretische Biologie am Botanischen Institut der Uni Bonn eine Arbeitsgruppe zur Geschichte der Theoretischen Biologie, an der ich mich – zunächst als Diplomandin, dann als Doktorandin – kontinuierlich beteiligt habe. Anfangs ging es unserer kleinen Gruppe vor allem um die Klärung des Selbstverständnisses: Was hält unser interdisziplinäres und heterogenes Fach eigentlich zusammen; wo liegen seine Wurzeln? Später stellten wir fest, dass auch andere sich für das interessieren könnten, was wir erarbeitet hatten.

Da sowohl mein Diplombetreuer und Doktorvater Wolfgang Alt als auch ich Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Geschichte und Theorie der Biologie (DGGTB) waren, bot es sich an, in deren Jahrbuch einen längeren Aufsatz zu veröffentlichen. 1999 folgte ein riesiges Poster über die "Roots of Theoretical Biology". Bei der Vorbereitung der Publikation war ich vor allem für die Abschnitte über Alfred J. Lotka und über Taxis/Tropismus zuständig; unsere Würdigung der Leistungen Lotkas habe ich auch auf einer Jahrestagung der DGGTB vorgetragen.

Diese Themenwahl war kein Zufall. Alfred J. Lotka war mir aus der Theoretischen Ökologie ein Begriff: 1995 habe ich einen Kurs zur "Steuerung und Störung von Ökosystemen" mitentwickelt und -betreut, in dem die berühmten Lotka-Volterra-Gleichungen eine große Rolle spielten, ein Differentialgleichungssystem für die Wechselwirkung zwischen Räuber- und Beute-Populationen. Und im Rahmen meiner Diplom- und Doktorarbeit hatte ich mich ohnehin intensiv mit dem Konzept der Taxis auseinanderzusetzen – und übrigens auch mit der eng damit zusammenhängenden schraubenförmigen Fortbewegung schwimmender Kleinstlebewesen, die in unserem Website-Kapitel über die Spiralen und Schrauben behandelt wird.